1919 - 1930

„Die Pflegesätze bleiben noch erheblich hinter unseren Selbstkosten zurück“

 

Z Der Erste Weltkrieg endet für das Deutsche Kaiserreich mit einer militärischen Niederlage. Revolution und Zusammenbruch der Monarchie folgen. Erstmals entsteht auf deutschem Boden eine parlamentarische Demokratie (Weimarer Republik: 1919–1933), in der Frauen und Männer das allgemeine und gleiche Wahlrecht erhalten. Die patriarchalisch ausgerichteten familienrechtlichen Bestimmungen des BGB gelten aber weiterhin. Im sozialen Bereich erfolgen Reformen und Neuorganisationen. An die Stelle der Armenkommission tritt das städtische Wohlfahrtsamt. Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) tritt in Kraft.

 

Q Das RJWG übernimmt Teile des alten Fürsorgegesetzes, beinhaltet aber auch einige Erneuerungen:

1. Den Anspruch des Kindes auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit.

2. Die Zusammenfassung der Jugendpflege und Jugendfürsorge unter dem Oberbegriff Jugendhilfe.

3. Die Konzeption der örtlichen (öffentlichen) Jugendpflege und Jugendfürsorge unter dem Oberbegriff Jugendhilfe im Jugendamt, das in allen Stadt- und Landkreisen errichtet werden und Fachbehörde mit Erziehungsauftrag sein soll.

4. Regelungen des Verhältnisses von öffentlicher und freier Jugendhilfe

Aufgrund anhaltender wirtschaftlicher Probleme des Staates werden viele Aufgaben der Jugendhilfe durch Notverordnungen zu freiwilligen Leistungen erklärt.

C 1919–1923

Die zunehmende Geldentwertung, die sich zu einer Inflation ausweitet, hat Folgen für das Vinzenzwaisenhaus:

„Die immer bedrohlicher werdenden und das Fortbestehen unserer Anstalten gefährdenden Teuerungsverhältnisse zwingen uns die Pflegesätze (...) zu erhöhen (...). Diese Pflegesätze bleiben noch erheblich hinter unseren Selbstkosten zurück und deshalb bitten wir, sie uns bereits vom 1. Juli 1919 ab zu bewilligen.“ (Brief der Katholischen Fürsorge GmbH an das Wohlfahrtsamt der Stadt Münster vom 30. September 1919.)

Als sich die schleichende Inflation zu einer galoppierenden Inflation entwickelt, muss die Katholische Fürsorge GmbH beim städtischen Wohlfahrtsamt geradezu astronomische Summen beantragen: am 31. August 1923 einen Vorschuss von zwei Milliarden Mark, im September eine Abschlagszahlung von 22.000.000.000 Mark.

C 1924–1928

Nach der Währungsreform von 1923/24 stabilisiert sich die wirtschaftliche Situation. 1927 wird im Vinzenzwaisenhaus ein Erweiterungsbau fertig gestellt, auch können Renovierungen und Erneuerungen durchgeführt werden. Im Vinzenzwaisenhaus leben im der Zeit von 1925 bis 1928 durchschnittlich 270–300 Kinder. Jeweils 15 Kinder (Jungen und Mädchen getrennt) bilden mit einer Ordensschwester (Hortnerin oder Kindergärtnerin) eine Gruppe.

Obwohl in der Weimarer Republik zahlreiche Schulreformen erlassen werden, besuchen überwiegend Kinder der oberen Gesellschaftsschichten eine höhere Schule. Alle übrigen Kinder gehen auf die Volksschule, die aus acht Schuljahrgängen besteht. Neben dem Schulbesuch müssen Kinder aus der Arbeiterschicht und Bauernkinder im Haushalt, im Garten und in Landwirtschaft mitarbeiten. Obwohl Kinderarbeit gesetzlich stark eingeschränkt ist, gehen viele arme Kinder neben der Schule einer Erwerbsarbeit nach. Mit 14 Jahren beginnt für die meisten Jugendlichen in Deutschland das Berufsleben. Mädchen sollen später vor allen Dingen Hausfrauen und Mütter werden. Heimkinder besuchen, getrennt von den übrigen Kindern, eine Heimschule, bestehend aus acht Schuljahrgängen. Die älteren Kinder sind verpflichtet, in der Hauswirtschaft (die Mädchen) und in der zum Vinzenzwaisenhaus gehörenden Landwirtschaft mitzuarbeiten. Kinder, die nicht schulpflichtig sind, besuchen den Kindergarten.

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