1912 - 1918

„der Königlichen Regierung beehren wir mitzuteilen …“

 

Z Die Gründung des Vinzenzwerks fällt in die Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918). Deutschland ist zu dieser Zeit ein Bund von Fürstentümern mit einem Kaiser an der Spitze. Westfalen ist eine Provinz des Königreichs Preußen. Die Gesellschaft besteht aus verschiedenen Schichten. Die höheren und mittleren Gesellschaftsstände (Adlige und Bürgertum) verfügen über den meisten Besitz und haben in Staat und Gesellschaft den größten Einfluss. Die unteren Klassen (Lohnarbeiter, ärmere Handwerker, Kleinstbauern), die den größten Teil der Gesellschaft ausmachen, leben am Rande der Armut und haben in Staat und Gesellschaft weniger Rechte. Kinder der unteren Sozialschichten sind vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen. Mädchen und Jungen aller Gesellschaftsschichten werden autoritär erzogen und müssen Erwachsenen bedingungslos gehorchen. Frauen sind Männern nicht gleichgestellt. In Erziehungsfragen ist der Wille des Vaters ausschlaggebend – so bestimmt es das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900.

Q Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder (Auszug aus dem BGB von 1900)

§ 1616.

Das Kind erhält den Familiennamen des Vaters.

§ 1617.

Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.

§ 1626.

Das Kind steht, so lange es minderjährig ist, unter elterlicher Gewalt.

§ 1631.

Die Sorge für die Person des Kindes umfasst das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

Der Vater kann kraft des Erziehungsrechtes angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. Auf seinen Antrag hat das Vormundschaftsgericht ihn durch Anwendung geeigneter Zuchtmittel zu unterstützen.

§ 1634.

Neben dem Vater hat während der Dauer der Ehe die Mutter das Recht und die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen; zur Vertretung des Kindes ist sie nicht berechtigt, unbeschadet der Vorschrift des § 1685 Abs. 1. Bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Eltern geht die Meinung des Vaters vor.

C 1912

„Der Königlichen Regierung beehren wir ganz ergebenst mitzuteilen, dass unsere Schützlinge im Alter von 4–14 Jahren am 1. Dezember ds. Js. in das neu erbaute Fürsorgeheim in der Hornheide b. Handorf übersiedeln werden, und dass mit diesem Tage das Vinzenzwaisenhaus an der Sentrupperstrasse geschlossen wird.

Katholische Fürsorge-Heim G. m. b. H., Frau M. Hellraeth, Geschäftsführerin“

Bereits 1906 hatte der Katholische Fürsorgeverein für Frauen, Mädchen und Kinder (heute: Sozialdienst Katholischer Frauen) im Antoniusstift in Münster ein Kinderheim mit dem Namen „Vinzenzwaisenhaus“ errichtet. 1910 erhält das Vinzenzwaisenhaus ein eigenes Gebäude. Steigende Kinderzahlen machen schon bald den Bau eines größeren Hauses außerhalb Münsters notwendig. Am 1. Dezember 1912 ziehen 150 Kinder in das neue Vinzenzwaisenhaus in Handorf ein. Betreut werden sie von zehn Ordensschwestern, die der Kongregation der Schwestern vom Heiligen Kreuz angehören. Das neue Heim wurde nach den Plänen des Architekten und Regierungsbaumeisters Hensen gebaut und ist ein für die damalige Zeit modernes Gebäude mit Warmwasserheizung und elektrischer Beleuchtung.

C 1913

Am 2. Juli 1913 findet die offizielle Einweihungsfeier des neuen Waisenhauses statt. Zahlreiche Ehrengäste – kirchliche Würdenträger, hohe Beamte, Politiker sowie Vertreterinnen und Vertreter christlich-karitativer Vereine – sind anwesend. Die Kinder: Waisen, Halbwaisen, „unehelich“ geborene Kinder und „Fürsorgezöglinge“, haben in ihrem Alltag zwar überwiegend Umgang mit ihren Erzieherinnen (Ordensschwestern), doch sind viele Menschen, Behörden und Institutionen für sie verantwortlich.

Q

Bei dem größten Teil der Kinder im Vinzenzwaisenhaus handelt es sich um so genannte Fürsorgezöglinge, d. h um Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihrem familiären Umfeld bleiben können.

Q Auszug aus dem Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900

§1.

Ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:

1. Wenn die Voraussetzungen des § 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuches vorliegen und die Fürsorge-Erziehung erforderlich ist, um die Verwahrlosung der Minderjährigen zu verhüten;

2. Wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat, wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters strafrechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorge-Erziehung (...) zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist;

3. Wenn die Fürsorge-Erziehung außer diesen Fällen wegen Unzulänglichkeit der erzieherischen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Minderjährigen notwendig ist.

§ 9.

Die Ausführung der Fürsorge-Erziehung liegt dem verpflichteten Communalverband ab (§ 14); er entscheidet darüber, in welcher Weise der Zögling untergebracht werden soll. Im Falle der Anstaltserziehung ist der Zögling, soweit möglich, in einer Anstalt seines Bekenntnisses unterzubringen. Im Falle der Familienerziehung muß der Zögling mindestens bis zum Aufhören der Schulpflicht in einer Familie seines Bekenntnisses untergebracht werden. (...)

C 1914–1918

Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg – mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung. Viele der zum Militär eingezogen Soldaten: Väter, Brüder, Nachbarn und Freunde fallen bei Kampfhandlungen. Zahlreiche Kriegerwitwen müssen einer Erwerbsarbeit nachgehen, da die Hinterbliebenenrente nicht ausreicht. Lebensmittel und Gebrauchsgüter werden knapp. In dieser schwierigen Zeit müssen im Vinzenzwaisenhaus zunehmend mehr Kinder – vor allen Dingen Kriegswaisen – versorgt werden. Während 1914 durchschnittlich 154 Kinder Aufnahme finden, sind es 1915 bereits 170 Kinder. 1916 beträgt die Durchschnittsbelegung 228 Kinder und 1917 sogar 284 Kinder. In die Zeit des Krieges fällt der Wechsel der Heimleitung. Die „Schwestern Unserer Lieben Frau“ (1850 in Coesfeld gegründet) lösen die „Töchter vom Heiligen Kreuz“ ab.

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