Lernen aus der Geschichte

2012 haben wir 100 Jahre Vinzenzwerk gefeiert. Anlässlich des Jubiläums haben wir die Historikerin Sabine Heise beauftragt, unsere Geschichte lebendig zu machen. Viele Stunden in Archiven und Gesprächen mit Ehemaligen, Schwestern und Mitarbeitenden später ist ein umfassender und beeindruckender Überblick gelungen. Zwei Jahre vor dem Jubiläum wird das Vinzenzwerk mit Missbrauchsvorwürfen vergangene Jahrzehnte betreffend konfrontiert. Für uns ist dies ein Anlass, unsere Geschichte einmal daraufhin durchzugehen, was wir aus ihr lernen können oder gelernt haben.

 

Historische Einordnung: Die Entwicklung Deutschlands rund um das Vinzenzwerk

Kaiserreich: Gehorsam als Gesellschaftsordnung

Die Gründung des Vinzenzwerks fällt in die Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918). Adlige und Bürgertum verfügen über den meisten Besitz und haben in Staat und Gesellschaft den größten Einfluss. Lohnarbeiter, ärmere Handwerker, Kleinstbauern, die den größten Teil der Gesellschaft ausmachen, leben am Rande der Armut und haben in Staat und Gesellschaft weniger Rechte. Das Weltmachtdenken der herrschenden Klassen in Europa führt schließlich in den Ersten Weltkrieg, in dem an vorderster Front vor allem die einfachen Soldaten sterben.

Weimarer Republik: Instabilität in allen Bereichen

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entsteht erstmals auf deutschem Boden eine parlamentarische Demokratie, die Weimarer Republik. Doch die junge Demokratie hat zu kämpfen: politisch, wirtschaftlich, sozial. Während der galoppierenden Inflation muss die Katholische Fürsorge GmbH, damals Träger des Vinzenzwaisenhauses, beim städtischen Wohlfahrtsamt astronomische Summen beantragen: am 31. August 1923 einen Vorschuss von zwei Milliarden Mark, im September eine Abschlagszahlung von 22.000.000.000 Mark.

Der Weg in den Krieg: Gleichschaltung und Auflösung

Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 kann der Staat die öffentlichen Ausgaben kaum noch finanzieren und setzt überall den Rotstift an: „Die Zeiten sind furchtbar ernst“, steht am 12. Oktober 1931 in den Annalen der Schwestern Unserer Lieben Frau, die das Vinzenzwaisenhaus leiten. Die arbeits- und wirtschaftspolitische Lage begünstigt 1933 den Durchbruch der NSDAP. Erklärtes Ziel der Machthaber ist, die gesamte deutsche Gesellschaft nach ihrer Ideologie gleichzuschalten und einen Krieg vorzubereiten. Die Schwestern Unserer Lieben Frau werden bespitzelt. In der Zeitung erscheint ein Artikel über die „mangelhafte nationale Einstellung“ der Schwestern. 1935 bis 1936 müssen alle Kinder in andere Heime verlegt werden. Die Schwestern beginnen mit der Auflösung des Hauses. In den folgenden 11 Jahren ist das Vinzenzwaisenhaus nicht existent.

Nachkriegszeit: Mangel an allem

Am 8. Mai 1945 gehen mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches der Zweite Weltkrieg und zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur zu Ende. Die Leidtragenden von Diktatur, Krieg und Kriegsfolgen sind von allen Dingen die Kinder. Viele von ihnen haben Eltern und Geschwister verloren. Familien, die ausgebombt oder vertrieben wurden, leben in primitiven Notunterkünften. Ein Mangel an allem, was zum Leben notwendig ist, prägt den Nachkriegsalltag. Die Erlebnisse von Diktatur und Krieg haben in den Seelen der Menschen Spuren hinterlassen. Hilflosigkeit, Überfordertsein im Regeln zwischenmenschlicher Konflikte, Aggressionen und gewalttätiges Verhalten sind in vielen Familien und anderen gesellschaftlichen Gruppen traurige Normalität.

Bundesrepublik und Wiedervereinigung: Kinder erhalten Rechte

1949 entsteht die Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland 1990 beginnt eine neue zeitgeschichtliche Epoche.

Was wir lernen …

Eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt sich in und mit der Gesellschaft, in der sie verortet ist. Sie muss mit den Rahmenbedingungen und Ressourcen zurechtkommen, die ihr von dieser Gesellschaft zugebilligt werden.

Wenn Ressourcen knapp werden, ist es wichtig, diese gerecht zu verteilen – auch und besonders an jene, die am wenigsten selbst für sich eintreten können. Das Vinzenzwerk als Institution ist daher auch gefordert als politischer Akteur, um eine Lobby zu sein für die Rechte und Bedürfnisse derer, die uns anvertraut sind.

 

 

Der politisch-rechtliche Rahmen: Familiengesetzgebung und Kinderrechte

Die Macht hat der Mann

Am 2. Juli 1913 wird das „Vinzenzwaisenhaus“ feierlich eröffnet. Frauen sind Männern nicht gleichgestellt. In Erziehungsfragen ist der Wille des Vaters ausschlaggebend – so bestimmt es das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900:

§ 1617.
Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.

§ 1626.
Das Kind steht, so lange es minderjährig ist, unter elterlicher Gewalt.

§ 1631.
[…] Der Vater kann kraft des Erziehungsrechtes angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. […]

§ 1634.
[…] zur Vertretung des Kindes ist [die Mutter] nicht berechtigt […]. Bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Eltern geht die Meinung des Vaters vor.

1919 erhalten Frauen und Männer das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Die patriarchalisch ausgerichteten familienrechtlichen Bestimmungen des BGB gelten aber weiterhin. An die Stelle der Armenkommission tritt das städtische Wohlfahrtsamt. Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) tritt in Kraft mit einigen Erneuerungen:

  • Anspruch des Kindes auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit.
  • Zusammenfassung der Jugendpflege und Jugendfürsorge unter dem Oberbegriff Jugendhilfe.
  • das neu konzipierte Jugendamt soll Fachbehörde mit Erziehungsauftrag sein

Weiter wie bisher trotz Demokratie

Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ändert sich zunächst kaum etwas für Kinder und Familien: Von 1945 bis 1961 erfolgt die Unterbringung der Kinder im Vinzenzwerk weiterhin gemäß den Regelungen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) von 1922/24. Die Novelle des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) von 1961 übernimmt die meisten Inhalte des alten RJWG.

Das Grundgesetz der BRD verankert die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Im Familienrecht gilt weiterhin das BGB in seiner Fassung von 1900, das dem Mann in der Familie eine Vorrangstellung einräumt. Erst mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1957 erfolgen einige Änderungen. 1959 werden auch der väterliche Stichentscheid bei Erziehungsfragen sowie das alleinige väterliche Züchtigungsrecht gestrichen.

Für unverheiratete Mütter und ihre Kinder ändert sich nicht viel. Sie haben zwar das Recht und die Pflicht für die Person des Kindes zu sorgen, die elterliche Gewalt dagegen wird vom Jugendamt ausgeübt. In der westdeutschen Gesellschaft werden unverheiratete Mütter und ihre Kinder wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

Reformen im Familienrecht infolge der 68er-Bewegung

In den siebziger Jahren werden wichtige gesetzliche Reformen durchgesetzt. Auf der Ebene des Privatrechts wird das Ehe- und Familienrecht reformiert, was zu mehr Geschlechterdemokratie und Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann führt. Ein neues Nichtehelichenrecht beseitigt in wesentlichen Punkten die rechtliche Diskriminierung unverheirateter Mütter und ihrer Kinder. Kindern und Jugendlichen werden mehr Rechte zugestanden. 1975 erfolgt die Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre. 1979 tritt das „Gesetz zur Neureglung des Rechts der elterlichen Sorge“ in Kraft. Er sieht mehr Mitwirkungsrechte und einen verstärkten Schutz des Kindes vor und verabschiedet sich von der alten Vorstellung, dass ein Kind den Eltern gehorchen müsse. Stattdessen sollen „die Eltern auf den Willen und die Belange des einsichtsfähigen Kindes Rücksicht zu nehmen und Maßnahmen im Bereich der elterlichen Sorge mit ihm zu erörtern haben – mit dem Ziel, gegenseitiges Einverständnis herbeizuführen.“

Was wir lernen …

Eine Gesellschaft ist nur so stark wie der Schutz ihrer schwächsten Mitglieder. Werden Kinder nicht durch wirksame Gesetze in ihrer Entwicklung ganzheitlich geschützt und unterstützt, werden sie als Erwachsene keine Gesellschaft formen, die ein soziales Miteinander gewährleistet.

Familie ist die Gemeinschaft, in der Kinder geborgen und liebevoll aufwachsen. Wie sich diese Familie zusammensetzt, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass alle Familienmitglieder sich mit ihren Bedürfnissen und Vorstellungen einbringen können und dürfen.

Für uns bedeutet das, dass Eltern (und ggf. auch Großeltern und Geschwister, also das ganze System Familie) in Entscheidungen eingebunden wird. Im Vinzenzwerk binden wir die Ansicht aller Beteiligten in die Unterstützungsmaßnahmen ein und richten sie am Wohl des Kindes aus, nicht an den Machtstrukturen in der jeweiligen Familie.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, die es so lange durchzufüttern gilt, bis sie endlich wirtschaftlichen Nutzen bringen. Sie sind eigenständige Menschen mit dem Recht, dass die Gesellschaft Rücksicht nimmt auf ihre besonderen Bedürfnisse wie Spielen, Lernen, Rückzug, Liebe oder Gemeinschaft.

Im Vinzenzwerk ist die Mitbestimmung der Kinder und Jugendlichen in verschiedenen demokratischen Gremien verankert. So lernen sie, wie eine Demokratie funktioniert und wie wichtig es ist, politische Strukturen aufrechtzuerhalten, die alle Mitglieder der Gesellschaft ernstnehmen. Die jungen Menschen bei uns lernen, welche Rechte sie haben und wie sie die Rechte der anderen um sich herum achten. So tragen wir bei zum Rechtsbewusstsein unserer Kinder und Jugendlichen.

 

Pädagogik im Wandel: Was ist ein Kind?

Schutz der Gesellschaft vor „unerzogenen“ Kindern

Am 1. Dezember 1912 ziehen 150 Kinder im Alter von 4 bis 14 Jahren in das neue Vinzenzwaisenhaus in Handorf ein. Betreut werden sie von zehn Ordensschwestern, die der Kongregation der Schwestern vom Heiligen Kreuz angehören. Die Kinder sind Waisen, Halbwaisen, „unehelich“ geborene Kinder und – hauptsächlich – „Fürsorgezöglinge“, also Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihrem familiären Umfeld bleiben können. Für sie verantwortlich sind viele Menschen, Behörden und Institutionen. Mädchen und Jungen aller Gesellschaftsschichten werden autoritär erzogen und müssen Erwachsenen bedingungslos gehorchen.

Die Gründe, warum sich die Fürsorge Kindern annimmt, lauten:

  • um die Verwahrlosung der Minderjährigen zu verhüten;
  • wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat […] und die Fürsorge-Erziehung (...) zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist;
  • wenn die Fürsorge-Erziehung […] wegen Unzulänglichkeit der erzieherischen Einwirkung […] zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Minderjährigen notwendig ist.

Auf das Bekenntnis der Kinder wird insofern Rücksicht genommen, als dass sie, wenn möglich, in konfessionsgleichen Einrichtungen oder Familien aufwachsen sollen.

Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg – mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung. In dieser schwierigen Zeit müssen im Vinzenzwaisenhaus zunehmend mehr Kinder – vor allem Kriegswaisen – versorgt werden. Durchschnittlich wohnen im Vinzenzwaisenhaus:

1914: 154 Kinder
1915: 170 Kinder
1916: 228 Kinder
1917: 284 Kinder

In die Zeit des Krieges fällt der Wechsel der Heimleitung. Die „Schwestern Unserer Lieben Frau“ lösen die „Töchter vom Heiligen Kreuz“ ab.

Kinder als Störfaktoren nationaler Politik

Im Vinzenzwaisenhaus leben in der Zeit von 1925 bis 1928 durchschnittlich 270 bis 300 Kinder. Jeweils 15 Kinder (Jungen und Mädchen getrennt) bilden mit einer Ordensschwester (Hortnerin oder Kindergärtnerin) eine Gruppe.

Der Geburtenrückgang als Folge des Ersten Weltkrieges, veränderte Gesetze im Bereich von Jugendhilfe und Fürsorgeerziehung sowie der drastische Sparkurs des Staates führen dazu, dass immer weniger Kinder im Vinzenzwaisenhaus leben. Die Existenz des Hauses ist gefährdet. Im Vinzenzwaisenhaus beginnt 1931 ein Stellenabbau.

Im Vinzenzwaisenhaus wird – entsprechend der damaligen Pädagogik – 1930 eine eigene Abteilung für so genannte schwererziehbare Kinder eingerichtet. Weiterhin entsteht eine Abteilung für schulentlassene Mädchen, die keine Arbeitsstelle finden. Der Direktor des Landesjugendamtes drängt darauf, Kinder möglichst schnell anderweitig unterzubringen, um Kosten zu sparen. Bisher hatte die Katholische Fürsorge GmbH genügend Zeit, Pflegefamilien und Arbeitsstellen für die Kinder zu finden. Während der NS-Diktatur wird dem kirchlichen Träger die Fürsorge für die Kinder wegen mangelnder nationaler Gesinnung entzogen.

Materielle Versorgung und Personalmangel

Auch nach dem Krieg wird das neu eröffnete Vinzenzwerk kein Paradies für Kinder: Alles bleibt spürbar eng und provisorisch, Privatsphäre gibt es kaum. Für die vielen Kinder gibt es viel zu wenige Erzieherinnen. Aus Personalmangel im erzieherischen Bereich können 1961/62 keine neuen Kinder aufgenommen werden. Für die einzelnen Kinder im Heim, die in alters- und geschlechtshomogenen Gruppen leben, haben die Erzieherinnen – Schwestern und einige wenige Angestellte – viel zu wenig Zeit. Im Vordergrund steht die materielle Versorgung der Kinder, differenzierte pädagogische und therapeutische Angebote gibt es noch nicht.

Aufbruch in die pädagogische Differenzierung

Zwischen 1965 und 1969 unterliegt die Heimerziehung einer radikalen Kritik. Zum einen machen pädagogische Fachkreise auf die Modernisierungsdefizite in der Heimerziehung aufmerksam. Daneben stellt die studentische Protestbewegung die Fürsorgeerziehung generell in Frage.

Von 1970 bis 1974 beginnt im Vinzenzwerk – zunächst in kleinen Schritten – eine Zeit pädagogischer Veränderungen. Betreuten in früheren Jahren noch ein bis zwei Erzieherinnen 15 bis 20 Kinder in elf altersgegliederten Gruppen, so leben 1974/75 100 Kinder und Jugendliche in zehn Gruppen mit je drei Erziehern und einer Aushilfskraft für hauswirtschaftliche Arbeiten.

Für den Heimverbund im Raum Münster wird 1977 eine Diagnose- und Beratungsstelle gegründet, dem sich das Vinzenzwerk anschließt. Aufgabenschwerpunkte sind:
„1. Die Beratung der Heime bei der Situations- und Bedarfsanalyse, der Differenzierung der pädagogischen Angebote und der Vermittlung geeigneter Mitarbeiter.
2. Unterstützung und Weiterbildung der Mitarbeiter durch Hilfe bei der Aufstellung eines individuell ausgearbeiteten Erziehungsplanes für jedes einzelne Heimkind und Beratung des Erzieherteams.
3. Hilfe für das einzelne Heimkind, zum Beispiel durch gezielte Gruppenarbeit und Trainingsprogramme bei bestimmten Verhaltensauffälligkeiten.
4. Elternarbeit soll es ermöglichen, das Kind nach erfolgreicher heilpädagogischer Betreuung in ein soweit wie möglich gebessertes familiäres Milieu zurückgeben zu können. Weiter sollen Pflege- und Patenfamilien Hilfen angeboten werden.“

Zwischen 1981 und 1989 werden neue Wohnformen wie die Außenwohngruppen und Diagnosegruppen eingerichtet.

Im wiedervereinten Deutschland tritt 1990/91 das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft. Den örtlichen Jugendämtern wird die Zuständigkeit für die Erziehungshilfe übertragen. Im Vinzenzwerk arbeiten inzwischen mehrheitlich weltliche Kräfte im Team mit einigen Ordensschwestern. Die Professionalisierung und Spezialisierung pädagogischer und therapeutischer Berufe setzen sich weiter fort. Heute ist das Vinzenzwerk Handorf ein sozial- und heilpädagogisches Kinder- und Jugendheim mit 16 differenzierten Lebens- und Wohnformen.

Das Projekt „Professionelle Familien“ beginnt 1996. In den Profi-Familien hat ein Elternteil eine pädagogische Ausbildung, wird mit einer halben Stelle beim Vinzenzwerk angestellt und kann alle unterstützenden Dienste des Heimes nutzen.

2000/01 werden im Vinzenzwerk Handorf etwa 100 Mädchen und Jungen in differenzierten Gruppen- und Lebensformen betreut. Auf dem Stammgelände des Heimes leben zu dieser Zeit etwa 60 Kinder und Jugendliche in sechs unterschiedlichen Gruppen. Daneben gibt es ausgelagerte Gruppen in Münster, Telgte, Hiltrup, Handorf-Mitte, Mariendorf und Nottuln. Von den Mitarbeitern des Vinzenzwerkes haben 60 % eine Fachschulausbildung und 40 % eine Fachhochschulausbildung. Im pädagogischen Bereich sind 75 % weibliche und 25 % männliche Mitarbeiter.

Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung

In Zusammenarbeit mit dem Diözesanbildungswerk und der Bistumszeitung „Kirche und Leben“ entwickelt das Vinzenzwerk Handorf e. V. 2003 das Projekt „Stark sein für andere“. Jugendliche und Pädagogen aus dem Vinzenzwerk reisen nach Palai (Indien), um dort bei dem Aufbau einer Krankenstation mitzuhelfen. Die letzten drei Ordensfrauen, die in der Sozialarbeit des Vinzenzwerkes tätig waren, scheiden 2005 aus dem Berufsleben aus.

Im Vinzenzwerk findet 2004 eine Fortbildung statt, auf der Fachleute aus verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern das heilpädagogische Voltigieren und Reiten als Therapieform für suchtbelastete Familien kennenlernen.

Jugendliche und Pädagogen aus dem Vinzenzwerk Handorf helfen beim Aufbau eines Multi-Funktionshauses auf der Insel Bantayan (Philippinen).

In Tansania errichten Jugendliche und Pädagogen aus dem Vinzenzwerk 2006 den Rohbau eines Gemeinschaftshauses.

2010 wird im Vinzenzwerk ein Jugendparlament eingerichtet.

Aufarbeitung statt Verleugnung

Die katholische Kirche wird mit Vorwürfen über sexuellen Missbrauch durch Geistliche konfrontiert. Auch einige ehemalige Heimkinder aus dem Vinzenzwerk berichten der Presse und dem Vinzenzwerk gegenüber von sexuellem Missbrauch durch einen Priester in den 1950-er Jahren. Weiterhin gibt es Vorwürfe über körperliche Züchtigungen und Misshandlungen durch Erzieherinnen und Nonnen in den 1950-er und 1960-er Jahren. Heimleitung und Vorstand des Vinzenzwerkes wollen zur Klärung beitragen. Sie bieten Betroffenen an, Einsicht in ihre Akten zu nehmen und bei Antragstellungen für Entschädigungen zu helfen. In einer Pressekonferenz im März 2010 entschuldigt sich das Vinzenzwerk öffentlich bei allen möglichen Opfern von sexuellem Missbrauch und Misshandlungen. Im Internet veröffentlichen die „Schwestern Unserer Lieben Frau“ eine Stellungnahme zu den Vorwürfen und entschuldigen sich für das erlittene Leid und Unrecht, das Kinder und Jugendliche in von ihnen geführten Häusern erlebt haben.“

WN März 2010: Missbrauch am Vinzenzwerk: Schwestern sind „tief erschüttert“
https://www.wn.de/muensterland/missbrauch-am-vinzenzwerk-schwestern-sind-tief-erschuttert-2284033

Spiegel März 2010 Schuld durch Schweigen
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/missbrauch-in-der-katholischen-kirche-schuld-durch-schweigen-a-682032.html

K+L Juni 2022 Missbrauch im Kinderheim in Münster - Schwestern schützten Pfarrer N.
https://www.kirche-und-leben.de/artikel/missbrauch-im-kinderheim-in-muenster-schwestern-schuetzten-pfarrer-n

K+L Juli 2022 Missbrauch im Vinzenzwerk: Schwester meldet sich mit neuen Hinweisen
https://www.kirche-und-leben.de/artikel/missbrauch-im-vinzenzwerk-schwester-meldet-sich-mit-neuen-hinweisen

Missbrauchsstudie zum Bistum Münster
https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwistLfZ88T_AhURQ_EDHcAJBPAQFnoECCwQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.uni-muenster.de%2Fimperia%2Fmd%2Fcontent%2Fwwu%2Fjournalisten%2Fmacht_und_sexueller_missbrauch_im_bistum_muenster.pdf&usg=AOvVaw1Z0Ha09m5pwuQi3jwP7Ej5

Was wir lernen …

Kinder sind nicht dazu da, um zu funktionieren und Nutzen zu bringen. Sie sind weder wirtschaftliche Ertragsquelle noch politisches Werkzeug. Wenn sie sich den Vorstellungen der Gesellschaft von „einem Kind“ zuwider entwickeln, muss nicht die Gesellschaft geschützt, sondern das Kind unterstützt werden. Nicht der Komfort der Gesellschaft, sondern das Wohl des Kindes steht im Vordergrund.

Entsprechend gilt es bei unserer Arbeit nicht, die uns anvertrauten jungen Menschen in die von der Gesellschaft gewünschte Form zu biegen. Sondern es geht darum, jedes Kind und jeden jugendlichen Menschen darin zu fördern, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und diesen mit seiner individuellen Persönlichkeit auszufüllen.

Für diese Aufgabe braucht es ausreichend Menschen mit guter pädagogischer Ausbildung, um Beziehungsarbeit zu leisten und die individuellen Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen und zu berücksichtigen. Personalmangel kann zur Überforderung der erziehenden Personen und zur Vernachlässigung der jungen Menschen führen – mit entsprechend in der Vergangenheit erlebten Folgen. Ausreichend Personal schützt auch davor, dass Einzelne die Vernachlässigung von Kindern ausnutzen und ihren Mangel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse missbrauchen. Das Vinzenzwerk setzt daher den jeweiligen Betreuungsschlüssel konsequent um und fördert die Fachkräftegewinnung und -bindung durch attraktive Arbeitsbedingungen.

Auch mit den zuständigen Behörden im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten wir partnerschaftlich und transparent zusammen und pflegen eine offene Kommunikation.

Kinder, auch wenn sie außerhalb ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, sind Teil unserer Gesellschaft. Unsere Kinder und Jugendlichen heute wohnen teils mitten in Nachbarschaften, besuchen verschiedene Schulen, sind Mitglied in Sport- oder Freizeitvereinen und pflegen Kontakte über das Vinzenzwerk hinaus. Auch erleben sich unsere Kinder und Jugendlichen als Unterstützung für andere, indem sie sich u.a.in caritativen Projekten, insbesondere aber im Kinder- und Jugendparlament selbstwirksam engagieren. So lernen sie: Ich bin wertvoll für andere, ich kann mich einbringen und werde gehört.
 

Bildung: Geburtsrecht statt Chancengleichheit

Im Kaiserreich sind Kinder der unteren Sozialschichten vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen. Heimkinder besuchen, getrennt von den übrigen Kindern, eine Heimschule, bestehend aus acht Schuljahrgängen. Die älteren Kinder sind verpflichtet, in der Hauswirtschaft und in der zum Vinzenzwaisenhaus gehörenden Landwirtschaft mitzuarbeiten. Kinder, die nicht schulpflichtig sind, besuchen den Kindergarten.

Nach Heimauflösung in der NS-Zeit und Neugründung in der Nachkriegszeit bekommt die Heimschule 1954 neue Räume. An eine andere Schulform wird noch nicht gedacht, denn auch in der Bundesrepublik Deutschland existiert ein gesellschaftliches System, das Heimkinder und Kinder der unteren Sozialschichten von einer weiterführenden Bildung ausgrenzt. Die Kindererziehung in den 1950-er und 1960-er Jahren ist autoritär. Wie bereits in der Vorkriegszeit verlassen die meisten Kinder mit 14 Jahren die Volksschule und werden berufstätig. Bis 1960 ist für die 14- bis 18-Jährigen eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zulässig. Nur wenige Mädchen machen eine Ausbildung. Im Interview 2006 erzählt eine Ordensschwester:

„Ich hatte wirklich zwei Jungens, die auf das Gymnasium hätten kommen können. Da kam der Herr vom Landesjugendamt mit seiner Kartothek und zählte durch und sagte: „Ja, Schwester, wie ist es denn so Ostern?“ – Damals kamen die Kinder Ostern aus der Schule. – Ich sagte: „Ich habe zwei Jungens, die müssten eigentlich zum Gymnasium. Die haben wirklich das Zeug dafür.“ Da sagte der mir: „Kinder aus dem Heim aufs Gymnasium? Das glauben Sie doch wohl selber nicht. Das gibt's nicht.“ Ich fragte: „Wieso?“ „Tja“, sagt der. „Dann heiraten die später in akademische Familien und dann ist der Krach schon vorbereitet.“

Was wir lernen …

Bildung ist eine essenzielle Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe. Der Bildungsweg eines Menschen sollte sich nach seinen persönlichen Interessen und Fähigkeiten richten, nicht nach Herkunft, Geschlecht oder Wohnsituation. Im Vinzenzwerk unterstützen wir daher die Schul- und Ausbildungslaufbahn unserer jungen Menschen ganz nach ihrer jeweiligen individuellen Situation.

In einer Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung zu wohnen, ist in der Regel für unsere Kinder und Jugendlichen heute kein Stigma mehr, sondern eine Lebensform unter vielen. Sie besuchen alle gängigen Schulformen und sind in ihre Klassengemeinschaften integriert. In ihren Wohngruppen übernehmen sie altersgerechte Aufgaben, die sie auf dem Weg der Verselbstständigung unterstützen.

Männlich und weiblich gelesene Menschen werden bei uns (meist) koedukativ erzogen. Genderfindungsprozesse werden sensibel begleitet. Bei uns leben Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und Religionen zusammen. Die damit zusammenhängenden Bedürfnisse werden respektiert und die interreligiöse Kommunikation gefördert. Nach wie vor ist das Zusammenleben im Vinzenzwerk von christlichen Grundwerten geprägt wie Respekt, Toleranz, Nächstenliebe und Friedfertigkeit. In pädagogischen Fragen richten wir uns nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Konzepten.

Gebäudesituation: Erziehung braucht Raum

Ein zeitgemäßer Anfang

Das neue „Vinzenzwaisenhaus“ in Handorf, das 1913 ein zu klein gewordenes in Münster ersetzt, ist ein für die damalige Zeit modernes Gebäude mit Warmwasserheizung und elektrischer Beleuchtung.

Zweckentfremdung und Enteignung für politische Ziele

Mit der NS-Diktatur jedoch wird das Gelände zweckentfremdet, um den Zielen der Regierung zu dienen: Das Arbeitsamt richtet 1931 auf dem Gelände des Heimes Umschulungskurse für arbeitslose Jugendliche (ehemalige Fabrikarbeiterinnen) ein, die für die Arbeit in der Landwirtschaft – damals noch nicht technisiert und deshalb einer der größten Arbeitgeber – qualifiziert werden sollen. Ein zum Vinzenzwaisenhaus gehörender Kotten wird zum Ferienhaus für erholungsbedürftige Stadtkinder umfunktioniert. 1934 plant die Wehrmacht, auf dem Areal des Vinzenzwaisenhauses einen Flugplatz zu bauen. Am 2. September 1935 erfahren Schwestern und Angestellte, dass das Vinzenzwaisenhaus wenige Tage zuvor zwangsveräußert wurde. In den folgenden 11 Jahren steht das Gelände unter Wehrmacht-Verwaltung und -Nutzung.

Neubeginn mit Schwierigkeiten

1947 beschließen der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder und der Caritas-Verband der Diözese Münster, das Kinderheim in Handorf neu zu eröffnen – mit Zustimmung der alliierten Behörde: Der Grund ist die Not vieler Kinder – darunter Kriegswaisen, Flüchtlingskinder und so genannte Besatzungskinder. Das Vinzenzwerk Handorf e. V. entsteht.

Während des Zweiten Weltkrieges war das Flugplatzgelände mehrfach bombardiert worden, so dass die Räumlichkeiten des ehemaligen Waisenhauses zur Hälfte zerstört sind. Ebenso weisen die von der Wehrmacht errichteten Gebäude starke Schäden auf. Fast alles Notwendige fehlt. Dennoch werden im Dezember die ersten drei Kinder (Flüchtlinge) aufgenommen.

Der Wiederaufbau kommt jahrzehntelang nur stückweise voran, weil nicht geklärt ist, ob die früheren Ländereien dem Vinzenzwerk zurückgegeben werden. „Noch immer ist die Eigentumsfrage nicht entschieden […]. Aus diesem Grunde konnte man noch nicht zum Aufbau des Säuglingsheimes schreiten“, dokumentieren die Annalen der Schwestern Unserer Lieben Frau vom Dezember 1952. 1975 wird die Heimschule aufgelöst. Der Raummangel im Heim bleibt ein Dauerproblem. Der Pachtvertrag mit dem Bund, der immer nur um ein Jahr verlängert wird, hat zur Folge, dass Zuschüsse für Baumaßnahmen nicht gewährt werden.

Endlich Handlungsspielraum

Endlich: Da der Mietvertrag 1980 mit dem Bund auf zehn Jahre ausgedehnt werden kann, gibt es Zuschüsse vom Landesjugendamt, die eine Renovierung des Haupthauses und der Gruppenhäuser ermöglichen.

Doch erst das Ende des Kalten Krieges ermöglicht dem Vinzenzwerk Handorf e. V., 1996 das bisher gemietete Gelände zu kaufen: „Schon immer hatte unser Gelände einen unbezahlbaren, heilpädagogischen Wert, der von den Jugendämtern hochgeschätzt wurde. Dass Beste daran ist, dass die Kinder viele Möglichkeiten zum Toben, Spielen, Klettern usw. haben, dass es Weiden gibt für Pferde, Esel, Ziegen, Schafe usw. Auch können die Kinder eigene Tiere halten, seien es Kaninchen, Vögel, Fische ... All das ist pädagogisch wertvoll, weil die Kinder im Umgang damit emotional manchen Frust von zu Hause abbauen und auch verantwortlich für andere Lebewesen werden können“, sagt im Interview 2006 eine Ordensschwester.

Was wir lernen …

Kinder brauchen Platz, um sich zu entwickeln: Freiraum zum Toben und Spielen, Rückzugsorte, Räume für Lernen, Ausruhen, für Gemeinschaft … Um diese Räume den jeweiligen Anforderungen an eine zeitgemäße pädagogische Arbeit und die Bedürfnisse unserer jungen Menschen anzupassen, benötigt das Vinzenzwerk finanzielle Ressourcen und die Entscheidungshoheit über seine Flächen und Immobilien. Deshalb pflegen die Leitungsgremien des Vinzenzwerks einen engen Austausch mit dem pädagogischen Team. Außerdem fördern wir das Image des Vinzenzwerks, um ein privates finanzielles Engagement zugunsten unserer Kinder und Jugendlichen attraktiv zu machen.

Private Hilfe: Extra-Geld für Sonderzuwendungen

Manche Projekte des Vinzenzwerks hätten auch in der Vergangenheit schon nicht ohne die finanzielle Zuwendung von Spendern und Sponsoren realisiert werden können: Private Sponsoren finanzieren 1950 den Wiederaufbau der Kapelle. Aus den USA kommen in der Nachkriegszeit Pakete mit Kleidung und Spielsachen für die Kinder. Sponsoren ermöglichen 1998 den Bau einer Voltigier- und Reithalle für das therapeutische Reiten.

Auch heute noch sind unsere privaten Geldgeber äußerst wichtig, um den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, was der Staat nicht finanziert. Sei es der Führerschein zur Volljährigkeit, ein Sport-Event oder ein Therapieraum.

Zum Erfolg einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe gehörte und gehört es daher, dass sie Freunde und Förderer außerhalb hat. Deshalb sind wir heute und in Zukunft dankbar und froh, dass unser Vinzenzwerk auf großherzige Menschen und Unternehmen  zählen kann.