Schulartikel von Hannah Franziska Gerke

Im Rahmen eines Schulprojektes hatten wir im Januar 2018 Besuch von der 14-jährigen Hannah Franziska Gerke, die ein Artikel über das Vinzenzwerk schreiben wollte. 

Nach einem Interview mit Kolleginnen der Verwaltung hat sie folgenden Artikel geschrieben: 

 

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Willkommen in „Hogwarts“?

Mein Besuch im „Kinderheim Vinzenzwerk“ in Münster-Handorf

von Hannah Franziska Gerke

 

An einem kühlen Januarmorgen stehe ich vor einem alten Backsteingebäude am Rande von Münster-Handorf. Es erinnert mich ein wenig an ein Krankenhaus oder ein Kloster. Auf einem weißen Schild am Eingang ist jedoch zu lesen, dass es sich bei dem „alten Kasten“ um das „Vinzenzwerk, Heim für Kinder und Jugendliche“ handelt.

Ich bin heute mit einer Mitarbeiterin des Kinderheims verabredet. Ich will sie mit meinen Fragen „löchern“. Ich möchte mehr darüber erfahren, welche Kinder in dem Heim leben, warum sie dorthin gekommen sind, wie sie dort leben und wer sich um sie kümmert.

 

Ich habe vorher mit einigen meiner Freundinnen über das Thema gesprochen und möchte nun ihre und meine Vorstellungen mit der Realität „abgleichen“. Ich muss zugeben, dass ich bisher herzlich wenig über Kinderheime wusste. Als ich darüber nachdachte, wie es dort zugeht, fiel mir spontan das Zaubererinternat „Hogwarts“ ein, in dem Harry Potter das Zaubern erlernt. Die Kinder schlafen dort in großen Schlafsälen, verbringen ihre Freizeit in Gemeinschaftsräumen und essen gemeinsam mit ihren Betreuern und Lehrern in einer großen Halle.

Auch meine Freundinnen vermuteten, dass es in Kinderheimen so zugehe wie in einer Jugendherberge oder einem Internat. Das Haus, in dem das Heim untergebracht sei, müsse groß und geräumig sein und erinnere vom Aussehen an eine Schule. Nur das alles bunter und voller sei.

Auf die Frage, welche Kinder im Heim leben, antworteten die meisten meiner Freundinnen, dass es überwiegend Waisen seien. Manche dachten auch an Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern können oder wollen.

Zum Leben im Heim meinten meine Freundinnen, dass es sehr stark von der Gemeinschaft bestimmt sei und die Heimkinder viel gemeinschaftlich unternehmen würden, wie zum Beispiel Fußball spielen. Da sich die Heimkinder ihr Zimmer mit anderen teilen müssten, hätten sie weniger Privatsphäre als Kinder, die bei ihren Eltern leben.

Trotzdem konnten sich die meisten Befragten vorstellen, dass sich Heimkinder im Kinderheim wohlfühlen. Vorausgesetzt, sie hätten dort eine freundliche Umgebung, aufmerksame Betreuer und viele Freunde.

Die meisten, die ich befragt habe, vermuteten außerdem, dass sich das Leben eines Kindes komplett ändere, wenn es in ein Kinderheim einziehe. Man müsse viel Rücksicht auf die vielen anderen Kindern, mit denen man zusammenlebe, nehmen und deshalb sehr anpassungsfähig sein.

Die Betreuer in einem Kinderheim stellten sich meine Freundinnen streng aber auch nett und aufopferungsvoll vor. Sie müssten viel Zeit für jedes Kind haben und die Rolle der Eltern übernehmen. Vor allem müssten sie gut zuhören können.

 

Dies sind die Vorstellungen, die meine Freundinnen und ich über das Leben im Kinderheim haben. Mit diesen Vorstellungen im Kopf betrete ich an dem kühlen Januarmorgen das rote Backsteingebäude durch eine schwere Eichentür. An der Tür erwartet mich schon die Mitarbeiterin des Heims. Sie begrüßt mich und führt mich in einen Konferenzraum, wo ich ihr und der Verwaltungsleiterin der Einrichtung meine Fragen stelle. Anschließend zeigt sie mir das Haus und das Außengelände des Heims.

 

Sie berichtet, dass sich das „Vizenzwerk“ zur Zeit um 192 Kinder und Jugendlichen kümmert. 152 von ihnen leben in Wohngruppen mit 8-9 Kindern. Nicht alle Gruppen sind auf dem Gelände in Handorf untergebracht. Einige befinden sich auch an anderen Orten wie Hiltrup oder Telgte. 40 Kinder leben in Pflegefamilien, die vom Heim aus betreut werden.

Früher mag es so gewesen sein, dass die Heimkinder in großen Sälen geschlafen haben, aber das ist schon lange nicht mehr so. Heute hat jedes Kind ein eigenes Zimmer in seiner Wohngruppe. Zusätzlich hat jede Wohngruppe ein Wohnzimmer, eine Küche, mehrere Bäder und weitere Räumlichkeiten, die von der jeweiligen Wohngruppe nach individuellen Bedürfnissen eingerichtet werden können.

In einer Wohngruppe leben meistens Jungen und Mädchen gleichen Alters. Nur in einer Gruppe in Handorf wohnen ausschließlich Mädchen, die von überwiegend weiblichem Personal betreut werden.

Die meisten Betreuer im „Vinzenzwerk“ sind Frauen. Insgesamt kümmern sich 180 Angestellte um das Wohl der Kinder. Dazu gehören Hauswirtschafterinnen, die das Essen kochen, putzen und die Wäsche waschen, Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Hausmeister und Verwaltungsmitarbeiter. Und jedes Kind hat einen Bezugsbetreuer, dem es sich anvertrauen kann.

Von der Mitarbeiterin des Kinderheims erfahre ich außerdem, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, die im „Vinzenzwerk“ leben, auf Veranlassung des Jugendamts dorthin gekommen sind. Entweder weil sie schwer erziehbar sind und ihre Eltern deshalb nicht mit ihnen zurechtkommen oder weil ihnen zu Hause Gefahr droht; etwa durch gewalttätige Eltern.

Oft denkt man, dass Heimkinder keine Eltern mehr haben oder von ihren Eltern nicht gewollt werden. Es gibt jedoch nur noch sehr wenige Waisenkinder, die in Heime kommen.

Auch die Vorstellung, dass ein Kind, das einmal in einem Heim untergebracht wurde, dort bleibt, bis es volljährig wird, stimmt nicht immer. Nach einiger Zeit wird geprüft, ob es für den einzelnen Bewohner Alternativen zum Leben im Heim oder Anschlussangebote gibt. Das kann dann auch die Rückkehr zu den Eltern sein.

Wenn ein Kind an seinem 18. Geburtstag immer noch im „Vinzenzwerk“ lebt, wird es jedoch nicht automatisch auf die Straße gesetzt. Es bekommt die Möglichkeit, eines der Apartments auf dem Gelände zu beziehen, und kann dann mit Unterstützung eines Pädagogen auf Wohnungssuche gehen. Wer eine eigene Wohnung bezogen hat, kann bei Bedarf weiterhin von Mitarbeitern des Heims betreut werden. Kinder und Jugendliche, die in Heimen wohnen, haben zwar nicht so oft Kontakt zu ihren Eltern, aber dafür sind ständig andere Kinder und die Pädagogen anwesend.

 

Die Mitarbeiterin des „Vinzenzwerks“ erklärt mir, dass der Alltag von Heimkindern sich nicht besonders von dem anderer Kinder unterscheidet. Heimkinder gehen in „ganz normale“ Schulen und gestalten ihre Freizeit genauso wie meine Freunde und ich. Sie treffen sich mit Freunden, gehen ins Kino und treiben Sport.

Ihr Taschengeld erhalten die Kinder im Heim vom Jugendamt. Die Höhe des Taschengelds ist nach Altersgruppen abgestuft. Wenn ich mein monatliches Taschengeld aufgebraucht habe, aber unbedingt ins Kino möchte, kann ich meine Eltern fragen, ob sie mir Geld geben. Die Kinder im Heim können das nicht. Außer dem Taschengeld übernimmt das Jugendamt noch ein monatliches Bekleidungsgeld.

 

Am Ende meines Besuchs im Kinderheim hämmert mir der Kopf. Ich habe viel Neues erfahren und festgestellt, dass die Realität in modernen Heimen mit den Vorstellungen, die meine Freundinnen und ich bisher von diesen Einrichtungen hatten, nicht übereinstimmen. Die Bilder, die sich viele von Kinderheimen machen, sind veraltet und stammen vermutlich aus Büchern und Filmen. Niemand schläft dort heute noch in einem Schlafsaal mit mehrstöckigen Betten

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich die Kinder im Heim wohlfühlen. Jeder hat sein eigenes Zimmer und die Pädagogen und die anderen Kinder in der Wohngruppe übernehmen die Rolle von „Eltern“ und „Geschwistern“. Im Kinderheim geht es also nicht so zu wie bei Harry Potter in „Hogwarts“ sondern eher wie in einer großen Familie.