1949 - 1969
„Äußerlich gesehen sind wir mit unserem Aufbau nicht viel weiter gekommen.“
Z 1949 entsteht die Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz verankert die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Im Familienrecht gilt weiterhin das BGB in seiner Fassung von 1900, das dem Mann in der Familie eine Vorrangstellung einräumt. Erst mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1957 erfolgen einige Änderungen. 1959 werden auch der väterliche Stichentscheid bei Erziehungsfragen sowie das alleinige väterliche Züchtigungsrecht gestrichen. Für unverheiratete Mütter und ihre Kinder ändert sich nicht viel. Sie haben zwar das Recht und die Pflicht für die Person des Kindes zu sorgen, die elterliche Gewalt dagegen wird vom Jugendamt ausgeübt. In der westdeutschen Gesellschaft werden unverheiratete Mütter und ihre Kinder wie Menschen zweiter Klasse behandelt.
Die Kindererziehung in den 1950-er und 1960-er Jahren ist autoritär. Wie bereits in der Vorkriegszeit verlassen die meisten Kinder mit 14 Jahren die Volksschule und werden berufstätig. Bis 1960 ist für die 14 bis 18-jährigen eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zulässig. Nur wenige Mädchen machen eine Ausbildung. Die Eltern gehen davon aus, dass Mädchen später heiraten, Kinder bekommen, Hausfrauen sind und keiner Erwerbsarbeit nachgehen.
C 1949
Kredite und Zuschüsse ermöglichen weitere Wiederaufbau- und Renovierungsmaßnahmen. Im Dezember hat das Kinderheim wieder ein Dach. Studentinnen, die im zerstörten Münster keine Bleibe finden, ziehen in das Torhaus (ehemaliges Wehrmachtsgebäude).
C 1950
Private Sponsoren finanzieren den Wiederaufbau der Kapelle. Aus den USA kommen Pakete mit Kleidung und Spielsachen für die Kinder.
C 1951
Laut Zeitungsmeldung soll der Flugplatz in Handorf zum 26. Juli für militärische Zwecke beschlagnahmt werden. Ein für dieses Jahr geplantes Bauvorhaben kann deshalb nicht durchgeführt werden.
C 1952
Das britische Militär verzichtet auf das Gelände. Der Wiederaufbau kommt dennoch nur stückweise voran, weil nicht geklärt ist, ob die früheren Ländereien dem Vinzenzwerk zurückgegeben werden.
„Äußerlich gesehen sind wir mit unserem Aufbau nicht viel weiter gekommen, abgesehen von den vielen Verbesserungen im Haus. Noch immer ist die Eigentumsfrage nicht entschieden, ob unsere früheren Ländereien dem Vinzenzwerk zurückgegeben werden. Aus diesem Grunde konnte man noch nicht zum Aufbau des Säuglingsheimes schreiten, wozu wir aus der Mac-Cloy-Spende 100 000 DM erhielten. Dieses Geld darf nur zu Aufbauzwecken – Jugendheim-Säuglingsheim verwandt werden.“ (Annalen der Schwestern Unserer Lieben Frau, Dezember 1952).
C 1953
Wegen fehlender Baumöglichkeiten werden innerhalb des Hauses einige Modernisierungen vorgenommen. Dennoch bleibt alles spürbar eng und provisorisch, Privatsphäre gibt es kaum. Für die vielen Kinder gibt es viel zu wenige Erzieherinnen.
C 1954
Nach dem Auszug der Studentinnen werden im Torhaus Kleinkinder untergebracht. Die Heimschule bekommt neue Räume. An eine andere Schulform wird noch nicht gedacht, denn auch in der Bundesrepublik Deutschland existiert ein gesellschaftliches System, das Heimkinder und Kinder der unteren Sozialschichten von einer weiterführenden Bildung ausgrenzt.
„Ich hatte wirklich zwei Jungens, die auf das Gymnasium hätten kommen können. Da kam der Herr vom Landesjugendamt mit seiner Kartothek und zählte durch und sagte: „Ja, Schwester, wie ist es denn so Ostern?“ – Damals kamen die Kinder Ostern aus der Schule. – Ich sagte: „Ich habe zwei Jungens, die müssten eigentlich zum Gymnasium. Die haben wirklich das Zeug dafür.“ Da sagte der mir: „Kinder aus dem Heim aufs Gymnasium? Das glauben Sie doch wohl selber nicht. Das gibt's nicht.“ Ich fragte: „Wieso?“ „Tja“, sagt der. „Dann heiraten die später in akademische Familien und dann ist der Krach schon vorbereitet.“ (Interview mit einer Ordensschwester, 2006.)
Von 1945–1961 erfolgt die Unterbringung der Kinder im Vinzenzwerk weiterhin gemäß den Regelungen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922/24. Das Änderungsgesetz vom 28. August 1953 erklärt die Pflichtaufgaben der Jugendämter zu Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände und regelt die Organisationsform des Jugendamtes und des Landesjugendamtes neu. Die Novelle des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) von 1961 übernimmt die meisten Inhalte des alten RJWG.
C 1961/1962
Aus Personalmangel im erzieherischen Bereich können keine neuen Kinder aufgenommen werden. Für die einzelnen Kinder im Heim, die in alters- und geschlechtshomogenen Gruppen leben, haben die Erzieherinnen – Schwestern und einige wenige Angestellte – viel zu wenig Zeit. Im Vordergrund steht die materielle Versorgung der Kinder, differenzierte pädagogische und therapeutische Angebote gibt es noch nicht.
C 1965–1969
Die Heimerziehung unterliegt einer radikalen Kritik. Zum einen machen pädagogische Fachkreise auf die Modernisierungsdefizite in der Heimerziehung aufmerksam. Daneben stellt die studentische Protestbewegung die Fürsorgeerziehung generell in Frage.